„Es müßte doch langsam mal soweit sein“, dachte das Spiegelbild. Draußen dämmerte es schon seit einer Weile und der Wecker hatte auch schon zweimal geklingelt. „Sie scheint heute nicht aus dem Bett zu kommen.“ Jeden Morgen wartete das Siegelbild gespannt darauf, was es heute sein würde. Eine fröhliche junge Frau. Eine strenge Berufstätige. Eine verweinte Schlaflose. Oder vielleicht eine gelassene Verliebte. Das war das interessante am Spiegelbild-Dasein – es steckte immer voller Überraschungen.
Das grelle Licht ging an und für einen Moment mußte es die Augen zusammenkneifen. Schnell nahm das Bild der aus dem Bett gekrabbelten Verschlafenen Konturen an. Doch ganz sicher war sich das Spiegelbild seiner heutigen Identität noch nicht. Es sah, wie die Frau die Bürste durchs Haar fahren ließ, am Ende den Kopf ein paar mal schnell hintereinander schüttelte und dann mit den Händen alles in die gewünschte Form brachte. Ein bekannter Start. Wenn der Kopf vorläufig frisiert war, schaute das Spiegelbild sein Gegenüber immer einen Moment lang an – dann konnte es sehen, ob Schmerz, Resignation, Freude, Glück oder Erwartungen das Gesicht zeichneten. Heute war es Kraftlosigkeit. Die Haut war fahl, die Augen geschwollen (aber nicht gerötet, so dass sie wenig geschlafen, aber nicht geweint zu haben schien).
Das Spiegelbild war enttäuscht. Es vermisste, endlich mal wieder glücklich zu sein. Es erinnerte sích sehr gut an die Phasen, in denen es Tag für Tag strahlen durfte. Wo die Haut leicht gebräunt und die Augen glänzend waren. Wo es schlicht ein Spiegelbild war, das man gern anschaute. In der letzten Zeit merkte es, dass sein Gegenüber am liebsten gar nichts mehr mit ihm zu tun haben will. Das Spiegelbild gab sich zwar Mühe und sobald es ein wenig Rouge auf den Wangen und abgeschwollene Augen zeigte, war die Frau auch etwas zufriedener, aber von einer engen Beziehung waren beide zurzeit weit entfernt.
Durch den Wasserdampf der Dusche beschlug der Spiegel. Und sowohl das Spiegelbild als auch sein Zwilling waren froh, sich einen Moment lang nicht sehen zu müssen.