Zwei Minuten

Shit – ich bin spät dran. In einer halben Stunde fährt die ICE am Bremer Hauptbahnhof ab, ich ziehe allerdings in der Gartenstadt meine Jacke an. Den nächsten Bus muss ich unbedingt kriegen, sonst klappt es nicht mehr. Ich ziehe die Tür hinter mir zu und spurte durch den Vorgarten, über die Straße, der Haltestelle entgegen. So gar nicht meine Art, die genau passenden Busverbindung zu nehmen. Ich gehöre zu den den besorgten / paranoiden / durchgeplanten / zuverlässig pünktlichen … Menschen, die immer einen Bus früher nehmen. Bei einem Takt von zehn Minuten, wie gerade jetzt, kein Problem, denke ich beim Hasten übers Beton, aber wie häufig war ich schon eine halbe Stunde zu früh auf dem Bahnsteig, weil die nächste Verbindung möglicherweise nicht mehr geklappt hätte? Ziemlich häufig. Jedes Mal schwor ich mir, beim nächsten Mal nicht so zwanghaft zu sein, zumal ich die halbe Stunde meist noch mit sinnlosem Geldausgeben verbracht. Was zu essen, was zu lesen, vielleicht noch ein Modeschmuckstück…

Nun stehe ich also ausnahmsweise mal kurz vor knapp am Bushäuschen. Und warte. Und warte. Gemeinsam mit zwei jungen Frauen, die sich über Ausziehcouches unterhalten “Ich will unbedingt so eine L-förmige, nicht so ein Mist für 100 Euro.” Eine alte Frau kommt näher. Als sie das Bushäuschen erreicht sagt sie “Guten Tag”. War das früher üblich? Die Anwesenden grüßen, wenn man sich unter ein zu drei Seiten offenes Bushäuschen stellt? Ich weiß es nicht. Und warte weiter. Der Bus kommt nicht. Und kommt nicht. Und kommt nicht. Verflixt. Ich werde unruhig, schaue auf die Uhr. Als es noch 22 Minuten bis zur Abfahrt des Zuges sind, biegt der Bus endlich ein. Als er den Hauptbahnhof erreicht, sind es noch zwei Minuten. Zwei Minuten, um über den ganzen Bahnhofsvorplatz zu spurten, das vorbestellte Ticket am Automaten zu ziehen und Gleis 6 zu erreichen. Sei´s drum, ein Versuch ist es allemal wert, schießt es mir durch den Kopf, als ich meine Tasche unter den Arm klemme und die Beine in die Hand nehme.

Keuchend erreiche ich die Automaten. Das Piepen an einem der vier Exemplare zeigt an, dass der davorstehende Mann wohl gerade mit seinem Kaufvorgang fertig ist. Na wenigstens was! Den Zettel mit der Auftragsnummer in der Hand, klicke ich mich übers Touch-Display. Am Ende trennen mich nur noch acht Ziffern vom Ticket. Aber der Automat meint es nicht gut mit mir. Der rote Punkt, der bei Kontakt meines Fingers auf dem Bildschirm die Zahlen anwählt – er landet bei der fünften Stelle daneben. 5, verdammt, nicht 4! Wie kann ich die Zahl löschen? Ich drücke panisch auf den “Zurück”-Button – und lande auf dem Anfangsbildschirm. Was? Oh nein! Ich schaue auf die digitale Uhr, die oben rechts läuft. Ich habe demnach noch 50 Sekunden. Der zweite Versuch geht ebenfalls schief. What the fu*??? Ich grummle fluchend vor mich hin. Beim dritten Mal klappt es. Der Automat fängt auch an zu grummeln. Zu drucken. Eine gefühlte Ewigkeit. “Jetzt mach schon”, beginne ich mit der Box zu reden. “Mann, los jetzt!” Irgendwann spuckt er das Papier aus. Ich beginne wieder zu rennen. Wie eine Geisteskranke. Die Absätze meiner Stiefeletten knallen aufs Beton und hallen unüberhörbar durch die gesamte Bahnhofshalle. Die Leute gucken.

Ich erreiche die Treppe zum Gleis, kann erkennen, dass es verwaist ist. Der Zug steht also schon bereit. Ich springe die ersten Stufen hoch und höre plötzlich den flehenden Satz: “Können Sie mir helfen?” In Bruchteilen einer Sekunde erkenne ich die Situation: Ein Frau mittleren Alters und schlechter Kondition plagt sich mit schwerem Gepäck, um auch noch den ICE zu erreichen. Oh nein, was tun? Über mir der leere Bahnsteig mit wartendem ICE, unten die hilfsbedürftige Frau. Wenn ich den Zug nicht kriege, ist mein Termin futsch! Moralisches Dilemma. “Ich schaue erst nach dem Zug”, rufe ich und springe egoistisch die Stufen weiter. Ich sehe den Schaffner, brülle ihm zu, dass da noch jemand kommt, ob sie warten können und hüpfe kurzatmig, schwitzend und adrenalingetränkt in den Zug. Falle in einen freien Sessel. Kämpfe mit meiner moralischen Treppenverfehlung. Und höre durch den Lautsprecher:

“Unsere Weiterfahrt verzögert sich wegen eines vorausfahrenden Zuges um wenige Minuten!”

About Sandra

Ich schreibe hier über drei Dinge, die mich jeden Tag aufs Neue beschäftigen: meine Heimatstadt Bremen, meine berufliche Selbständigkeit und mein Alltag als Mutter eines Kleinkindes. Was mir am Herzen liegt: Euch anzustiften! Zu Unternehmungen an der Weser, zu Mut im Berufsleben und zu einem humorvoll-offenen Herzen für Eure Kinder. Allen Herausforderungen zum Trotz. Dass es nicht immer einfach ist, Familie und Job zu vereinbaren, darum geht es hier nämlich auch ab und zu.

3 thoughts on “Zwei Minuten

  1. Hihi, wenn ich 15 Jahre jünger wäre hätte ich LOL und ROFL geschrieben 😉 Toll geschrieben und ich erkenn mich so wieder… Das passiert nämlich nur Menschen, die sonst immer viel zu früh los gehen, bei den Menschen, die chronisch knapp dran sind wirkt das immer so lässig… Aber ich bin wie du!
    xo Zoe

  2. es regt den Kreislauf und den Stoffwechsel an, das sollte Frau nicht außer acht lassen.

    Sehr nett geschrieben, und mit nett meine ich auch nett, nett wie schön, fein, super, toll, klasse, hat Spaß gemacht!!!

    Schönen Sonntag noch und Gruß von der Elke

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