„Das ist ein Mensch, der weiß, was er will.“ Ist es eigentlich ein Kompliment, wenn man das über jemanden sagt? Ich persönlich meine: ja. In jedem Fall ist es eine Zuschreibung, die darauf hinweist, dass jemand sich selbst gut kennt und in der Lage ist, seine eigenen Bedürfnisse in Handlungen zu übersetzen. Und das ist eine echt gute Sache. Eine Sache, die man lernen muss. Früh. Eine Sache, die wir Eltern bestärken müssen. Immer wieder und allen Erschöpfungszuständen zum Trotz. Weil wir unser Kind damit in einer Kompetenz schulen, die es als junger Erwachsener und erst recht später nur noch mühevoll erwerben kann. Weil sie ihre Grenzen verteidigen, nein sagen und fokussiert voranschreiten können. Das ist ein guter Grund, warum wir Eltern auch in schweren Zeiten am bedürfnisorientierten Weg festhalten sollten. Vielleicht gibt aber noch einen ganz anderen.
Bedürfnisorientiert aufwachsen lassen
„Wir reden mit unseren Kindern, vielleicht mehr als nötig. Wir bitten dreimal um etwas, eh wir bestimmter werden. Wir lassen Möglichkeiten, Freiräume und auch Zeit. Wir sitzen Wutanfälle aus, ohne sie mit unserer eigenen Wut zu verkürzen. Wir lassen Gefühle zu, denn sie gehören zum Leben. Wir halten die Hand, die uns eben noch wütend geboxt hat und trocknen die Tränen, deren Ursache manchmal nicht klar ist. Wir trösten zu jeder Tageszeit – auch nachts, auch mehrmals. Wir erklären Dinge…oft. Denn warum soll man beim ersten Mal verstehen, dass es draußen kalt ist. Und wenn es nötig ist, stehen wir morgens um 7 Uhr alle im Schlafanzug auf der Terasse und gucken, ob es wirklich kalt genug für Wintersachen ist. Ist es, aber nur weil Mama es sagt, haben es Kinder nicht gelernt. Wir gehen mit Phantasie und Feingefühl auf Ängste ein und akzeptieren es, wenn tagelang nur trockene Nudeln gegessen werden.“ (Bella von Familieberlin)
Ich habe wissen genickt, als ich diese und die viele anderen gute Zeilen von Bellas neuem Blogbeitrag las. Ja, so mache ich es auch: Ich erkläre, versuche mich hineinzuversetzen, gebe Raum für Gefühle und fasse diese in Worte, die der Lütte ihnen noch nicht geben kann. Ich schleppe mich krank aus dem Bett, ich gebe Entscheidungszeit und ich nehme in den Arm, wenn aufgestampft und rumgebrüllt wird. Ich liege zwei Stunden neben dem Kind im Bett, damit es irgendwann einschlafen kann, ich suche so lange nach den Socken, die dem Kind an diesem Morgen als einzige geheuer sind und ich gehe kurz aus dem Raum, wenn meine Wut zu groß wird, um sie noch runterschlucken zu können. Bei all dem bin ich nicht immer perfekt, oh nein. Ich ertappe mich natürlich auch dabei, wie der Tonfall zu harsch und die Ungeduld zu deutlich wird. In denen ich doofe Sätze sage wie „Wenn Du jetzt immer wieder hier in unserem Bett rumturnst, dann musst Du doch in Deinem schlafen.“ Aber im Großen und Ganzen folge ich eben dem Weg, der heute am ehesten mit „bedürfnisorientiert“ beschrieben wird.
Momentan ist dieser Weg ein besonders schwerer. Wir stecken mal wieder mitten in einer Phase, in der der Lütte völlig überfordert davon ist, seinen eigenen Willen zu erkennen, ihn dennoch impulsiv in jeder noch so kleinen Situation ausprobiert: Schuhe ausziehen. Nee, doch nicht. Wieder anziehen. Aber andere. Die nicht. Gar keine Schuhe. Hausschuhe. Nein, keine Hausschuhe. Doch….. Oder er läuft ohne Anlass aus der Situation, schmeißt sich verzweifelt auf den Boden und weint herzzerreißend. Und wir stehen ratlos daneben, lassen ihn erst einmal das Gefühl loswerden, benennen es, trösten dann und versuchen, ihn mit einer neuen Situation wieder zu beruhigen. Er tut mir furchtbar leid, merkt man doch, wie sehr er im Innersten mit irgendetwas kämpft. Manchmal tue aber auch ich mir leid.
Bedürfnisorientiert altern lassen
An Tagen wie den vergangenen, an denen das Zubettbringen Stunden dauert, die Nächte unterbrochen sind, der Mittagsschlaf nicht klappt, ich selbst total krank bin, die Büro-ToDo-Liste mich erschlägt und die Osterdeko noch immer verpackt im Schrank liegt – an solchen Tagen wird mehr als deutlich, dass der bedürfnisorientierte Weg wahrlich nicht der kräfteschonendste ist. Es ist der Weg, auf dem man sich selbst für einige Jahre zurückstellt und den Großteil seiner Kraft für den Nachwuchs einsetzt. Als ich Bellas Artikel vorgestern auf dem Weg zur Arbeit las, durchschoss mich aber plötzlich ein Gedanke: Das alles kann zu uns als Eltern im Alter vielleicht einmal zurückkehren.
Wir reden nicht gern drüber und wir denken ungern daran: Irgendwann werden wir alt sein. Vielleicht kernig und rüstig, bis uns im hohen Alter ein Herzinfarkt beim Spazierengehen sterben lässt. Eventuell sind wir aber pflegebdürftig. Vielleicht dement. In jedem Fall wird es am Lebensende eine Situation geben, in der unser Wohlbefinden stark davon abhängt, wie sich unser Umfeld und vor allem unsere Kinder um uns kümmern. Und wäre es dann nicht das Schönste für uns, wenn diese Kinder von Beginn an ein familiäres Beisammensein erlebt haben, in dem bedürfnisorientiert auf die „schwachen“ Familienmitglieder geachtet wird?
Ganz plumpes Beispiel: Wie genervt sind wir manchmal, wenn das Kind anfängt, mit dem Essen zu kleckern, obwohl es doch weiß, wie man mit Besteck umgeht. Wir atmen tief durch, erklären, helfen, weisen auf Alternativen hin. Vielleicht beenden wir das Essen auch irgendwann. Aber was wir nicht machen: das Kind sofort anpampen, es ruppig behandeln und ihm das Essen sofort entziehen. Und jetzt überlegt doch mal: Vielleicht kleckern wir mit 80 genauso herum, vielleicht treiben wir unsere Kinder, die uns im Pflegeheim besuchen kommen oder uns gar zuhause betreuen (eine Garantie gibt es für beides nicht, das ist mir schon klar), in den Wahnsinn mit unsere Art, die der von Kleinkindern im schlimmsten Fall nicht unähnlich ist.
Was würden wir uns da wünschen? Dass unsere Kinder sich den bequemsten Weg suchen? Uns Beruhigungsmittel verschreiben lassen und uns ruppig die Jacke anziehen, bevor sie uns im Rollstuhl zu einem Pflichtspaziergang nach draußen schieben? Nein, wir würden uns in solch einer Situation auch wünschen, dass unser Kind nachsichtig ist. Uns Raum gibt. Unsere Bedürfnisse respektiert, so abwegig sie auch sein mögen.
Mir ist vollkommen bewusst, dass wir nicht davon ausgehen können, dass das Leben eine gerechte Kontoführung hat. Nur weil ich gerade Energie en masse in die bedürfnisorientierte Begleitung meines Kindes stecke, heißt das überhaupt nicht zwingend, dass es mir das irgendwann zurückgibt. Vielleicht lebt es später in Australien, vielleicht hat es mit der Familie nach irgendeinem Zwischenfall gebrochen. Natürlich, das alles kann sein. Aber woran ich fest glaube: Die Chance, dass mein Kind nicht nur sich und später seine Freunde und die eigene Familie wertschätzend und fürsorglich behandelt, sondern auch mich im Alter, ist auf jeden Fall größer, wenn er selbst so groß geworden ist.
So, und jetzt sagt mir: Ist es meine desolater Krankheitszustand, der mich zu wirren Gedanken geführt hat, oder habt Ihr Euch auch schon mal überlegt, wie das so sein wird mit Euren Kindern, wenn Ihr mal alt seid?