Morgens, halb neun, in Bremen. Ich sitze auf dem Fahrrad in Richtung Büro – und fühle mich miserabel. In meinen Ohren haben ich weder Straßenlärm noch Musik, sondern das verzweifelt-rebellische Geschrei meines Sohnes, das ich wenige Minute zuvor hörte, als ich die Tür hinter ihm und seinem Vater schloss. Es klingt nach, in meinen Gehörgängen, aber vielmehr in meinem Herzen. Ich frage mich: Habe ich das gerade richtig gemacht? Und verteufle die Teilzeit. Mal wieder.
Der Lütte hat seinem Alter entsprechend erneut entdeckt, dass er einen eigenen Willen hat. Mit dieser Entdeckung wird derzeit vor allem bei der Auswahl von Socken und Hosen experimentiert. „Alleine“, „Nein“ und „Haben“ sind die Worte, die wir aktuell am häufigsten hören. Das ist gesund. Das ist anstrengend. Das ist normal. Es gibt eine Grundhaltung, die mich in den meisten Fällen gut durch solche Phasen kommen lässt:
Gib Deinem Kind Zeit!
Ich begleite lautstarke Proteste häufig sehr lange. Und immer so ruhig wie möglich (klappt nicht immer). Ich lasse ihn erst einmal rebellieren und eventuell weinen, biete ihm offene Arme, Alternativen oder ein Taschentuch an. Ich rede, erkläre, warte.
Letzte Woche auf Sylt gab es beispielsweise eine Situation, die besonders viel Zeit erforderte: Der Lütte wollte auf dem Beifahrersitz des Autos sitzen, nirgendwo sonst. Und dabei den Zündschlüssel halten. Basta. Jeder Versuch, ihn in den Kindersitz zu quatschen oder zu heben – erfolglos. Nach einer Viertelstunde ungefähr, nachdem wir ihm bereits zweimal den Weg zurück ins Haus geebnet hatten, weil wir so ja nicht losfahren konnten, bekam er irgendwann auf meinem Arm die Kurve.
Verhandlungen zwischen Bratwürsten
Ähnliches erlebte ich auch vor einer Weile im Supermarkt: Ich durfte partout keine Bratwürste für das abendliche Grillen kaufen. Seine massive Verzweiflung über meinen Griff zum Würstchen kam mehr als überraschend. Socken-Proteste kannte ich, Wurst-Proteste bislang nicht. Ich saß daraufhin zehn Minuten mit dem Sohnemann auf dem Boden neben der Kühltruhe und verhandelte. Ebenfalls erfolglos. Ich spazierte mit ihm danach ziellos durch den Laden und sagte schließlich „Okay, dann kaufen wir die Würste jetzt nicht. Dann muss Papa das auf dem Rückweg von der Arbeit machen.“ Kurz danach bekamen wir auch hier eine Kehrtwende hin und ich spazierte mit einem fröhlichen Kind und einer Packung Grillwürstchen aus dem REWE.
Dem Kind Zeit geben – das ist kein Geheimrezept, wahrlich nicht. Aber eine Maßnahme, die ich persönlich durch die Erfahrungen damit als die beste erachte. Tja, aber dann kommt plötzlich so ein Morgen, an dem ich mich entscheiden muss: Nehme ich mir die Zeit oder tue ich es mal nicht.
Der Lütte wollte heute nämlich nicht in die Kita. Kurz vor dem traditionellen Abschied von Zuhause flog der Rucksack in die Ecke, das T-Shirt sollte sofort ausgezogen werden und wenn überhaupt, sollte Mama mit in die Kita kommen. Nun ist das morgentliche Bringen aber Sache von meinem Mann, ich hole ab. Da standen wir also, vor unserer Haustür, mit einem schreienden Kind. Eine Situation, die wir bislang zum Glück an einer Hand abzählen können, denn in die Kita geht der Lütte sehr gern. Heute aber schien es ums Prinzip zu gehen, nicht um die Kita.
Tick! Tack!
Wir erklärten, verhandelten, besänftigten. Keine Chance! Das Kind blieb verzweifelt und drängte immer wieder durch die Haustür in den Flur zurück. Und ich? Ich hörte die Uhr ticken. Laut. Die verfluchte Teilzeit-Uhr, die ein eingeschränktes Ziffernblatt hat: von 8.30 bis 13.30 Uhr. Tick tack. Tick tack!
Ich sinnierte: „Soll ich ihn in die Kita bringen, wenn das sein ausdrücklicher Wunsch ist? Aber dann fehlt mir mindestens eine halbe Stunde Arbeitzeit. Und wenn er am Ende trotzdem noch rebelliert? Dann bugsiere ich ihn kräftezehrend irgendwie zur Kita oder wir schaffen es vielleicht gar nicht und ich komme überhaupt nicht mehr ins Büro. Und ist es überhaupt sinnvoll, wenn ich jetzt in die Bresche springe?“
Tick. Tack.
Ich erkärte erneut. Zog ihm wie gewünscht das T-Shirt aus und die dafür eingeforderte Weste über den Body. Drückte ihm wieder den Rucksack in die Hand, vielleicht würde er ja jetzt…. äh nein. Der Rucksack flog mit einem energischen „Nein“ in den Blumekübel vor unsere Haustür.
Tick. Tack.
Das Schreien des Lütten wird lauter, seine Bewegungen hektischer, das Gesicht röter. Wir Eltern ratloser.
TICK. TACK!!!
„Tut mir leid, ich gerate in ein echtes Schlamassel, wenn ich jetzt nicht loskomme. Tschüß!“ Sage ich impulsiv, schließe die Hautür von innen, schnappe meinen Rucksack und gehe durch den Garten zum meinem Fahrrad. Das Kind: Es brüllt. Brüllt aus Leibeskräften und windet sich in den Armen meines Mannes, der ihn zum Auto trägt. Ich höre es noch durch die ganze Straße.
Selbständig in Teilzeit – trügerische Flexibilität
Und so sitze ich eben morgens um halb neun, eine halbe Stunde später als geplant, auf dem Rad und fühle mich miserabel. Habe ein schlechtes Gewissen. Und dieses schlechtes Gewissen hat eine sehr spezielle Wurzel: meine Selbständigkeit. Denn sie sollte es doch eigentlich sein, die mir ermöglicht, in solchen Situationen Zeit haben zu können. Weil es keinen Chef gibt, der mein Kommen kontrolliert. Keine Stechuhr. Niemanden, der meine Arbeitszeiten kritisch beäugt. Niemand, auf den ich die Schuld dafür, dass ich mein Kind heute morgen in solch einem Zustand verabschiedet habe, zuschieben kann. Wann ich morgens anfange, kann ich ganz allein entscheiden.
Doch diese Freiheit und Flexibilität, sie ist trügerisch. Denn in Teilzeit selbständig zu sein, bedeutet, dass klar definiert ist, wann ein Arbeitstag ZUENDE ist. Und aus diesem klaren Ende ergibt sich auch eine notwendige Anfangszeit. Wenn Ihr unsere aktuelle Podcast-Folge „Teilzeit ist nicht die Hälfte von Vollzeit“ gehört habt (ich häng sie unten mal an) bzw. selbst in Teilzeit arbeitet, brauche ich Euch nicht erklären, wie schnell so ein Vormittag vorbei ist. Vier bis maximal fünf Stunden sind wenig. Gerade wenn man als Selbständiger viel Adminstratives nebenher machen muss.
Ich habe keine klare Haltung auf die Frage, ob mein Verhalten heute morgen richtig war. Es gibt auch keine eindeutige Antwort. Bezogen auf den Job war sie selbstfürsorgend. Bezogen auf mein Kind war sie egozentrisch. Und ganz generell war es ein Bruch mit meinem Grundsatz „Gib dem Kind Zeit“. Und das fühlte sich eben – entschuldigt die Ausdrucksweise – beschissen an.
Ich hätte die Zeit gehabt. Eigentlich.
Ich habe sie mir nicht genommen. Aus guten Gründen.
P.s. Der Morgen hatte übrigens ein Happy End. Der Lütte protestierte zunächst noch heftig und lange, mein Mann war am Ende schon auf dem Rückweg von der Kita nach Hause. Doch als dieser Weg eingeschlagen wurde und mein Mann ihm noch einmal erklärte, warum das Ganze gerade sehr schwierig für uns ist, lenkte der Lütte ein. Daran zeigt sich etwas, das ebenfalls kein Geheimnis ist: Gibt man dem Wunsch des Kindes Raum, wird er plötzlich deutlich kleiner. Aber auch das geht nicht immer. Am Ende marschierte das Kind jedenfalls fröhlich in seine Gruppe und heute Nachmittag beim Abholen war von all dem Trubel des Morgens nichts mehr zu spüren.
Ohje! Da habe ich direkt Tränen in den Augen, denn solche Situationen kennt wohl Jede(r). Aber: auch Deine Bedürfnisse (bspw., pünktlich im Büro zu sein, um Dein Arbeitspensum zu schaffen), haben eine Daseinsberechtigung. Und es ging eben an diesem Morgen nicht anders. Der Lütte war ja immerhin beim Papa, der ihn auch gut begleitet hat.
Ich hätte mich auch nicht anders entschieden, als Du. Und ich hätte wahrscheinlich auch denselben Kloß im Hals gehabt.
Das ist leider das schwere Los der arbeitenden Mamas. Denn auch, wenn ich nicht selbständig arbeite, kann ich ja auch nicht in einer solchen Situation bei meinem Arbeitgeber anrufen und erklären, dass ich nicht kommen kann.
Hach. Wie man es dreht und wendet, es ist und bleibt immer ein Drahtseilakt. Umso schöner, dass es ein Happy End gab 🙂
Danke für’s Teilen!
<3
Katja
Unsere Kleine protestiert noch nicht so heftig, aber es fängt so langsam an. Ich arbeite im Moment auch selbstständig in Teilzeit. Ich habe allerdings einen Laden mit 70 Personen zu führen und da wird sehr genau geguckt, wieviel Zeit man sich nimmt und wann man da ist. Insofern ist die Flexibilität noch etwas eingeschränkter. Ich bin da häufig hin und her gerissen, denn als ich mich für diese Modell entschieden habe, war es vor allem, weil meine Mitarbeiter das Gefühl hatten, ich würde sie sonst im Stich lassen. Ich will aber auch mein Kind nicht im Stich lassen und beruhige mich damit, dass Papa ja in der Zeit da ist, in der ich arbeite. Nun, ab und an sieht unsere Kleine das aber anders. Papa reicht manchmal offensichtlich nicht.
Bisher sind wir noch nicht soweit, dass Diskussionen und Erklärungen viel bringen, weil sie noch zu klein ist. Obwohl wir es versuchen. Manchmal denke ich aber auch, Kinder müssen leider auch irgendwann lernen, Dinge auszuhalten – auch ohne Erklärung. Denn im späteren Leben wird es für viele Situationen auch keine Erklärung geben. Ich weiß nur nicht, ab wann Kinder etwas aushalten können, ohne, dass ihre kleine Welt zerbricht. Und auch Eltern müssen wohl lernen, diesbezüglich etwas auszuhalten. Wir können unseren Kindern diese Frusterfahrung ja nicht abnehmen.
Es ist und bleibt eine Zwickmühle und ich schätze, wir können je nach Tagesform mal besser und mal schlechter damit umgehen.
Viele Grüße
wünscht die Frau S.
Das ist auch eine Frage, die mich stets umtreibt: Wieviel können die schon aushalten/ vertragen? Also vom Entwicklungsstand her. Was ist zu viel, was in Ordnung? Da hilft mal wieder nur der Mutterinstinkt als Wegweiser, denn eine allgemeingültige Antwort gibt es darauf ja nicht.
Euch alles Gute – und Respekt vor Deiner beruflichen Leistung!!!
Ich kann mich Frau S. und Katja nur anschließen: Ich hätte es wohl genauso gemacht und mich auch gefragt, ob es richtig war/ist. Ich glaube aber, es ist für die Mutter oder Eltern schlimmer als für die Kleinen. Ich arbeite seit dieser Woche wieder jeden Tag in Teilzeit in einem Büro und im Prinzip wäre es kein Problem etwas später zu kommen und entsprechend länger zu bleiben (ich habe einen kleinen Puffer bis zum Abholen der Kleinen), aber irgendwie komme ich mir dabei auch blöd vor. Und beäugt wird man ja eh. Wir hatten bisher nur eine solche Situation: die Eingewöhnung war erfolgreich durch, am nächsten Montag ging plötzlich nichts mehr. Das Fräulein wollte nicht da bleiben, nicht „Tschüß“ sagen. Ich „musste“ dann gehen und hab auf dem Flur gewartet, aber nach ein paar Minuten hat sie sich beruhigt. Nur ich habe mir den ganzen Vormittag Gedanken gemacht. Beim Abholen hatte ich ein superfröhliches Kind und auch am nächsten Tag war nichts mehr von dem Drama zu merken.
Und ich glaube, die Mäuse halten mehr aus, als wir alle denken…
LG Stephi
Ich glaube, dass es für die Kinder schon schlimm ist, aber anders schlimm. Da passt die Welt einfach nicht zusammen – ich muss da immer an das Beispiel mit dem zerbrochenen Keks aus der Packung aus dem gewünschten Trotzkindbuch denken. Bei uns, die wir vom Alter ein bisschen weiter sind als ihr, gibt es total ruhige Phasen und dann wieder schlimmere, und einen ganz klaren Zusammenhang zum Thema Schlaf (das war mal ein Tipp aus slow family – Kinder sind oft wirklich müde oder hungrig, bei uns trifft das tatsächlich oft zu. Der Sohn kooperiert gaaaaanz viel, nur wenn er müde ist, dann merkt man ganz klar, wie diese Kooperationsfähigkeit sinkt). Hier gibt es regelmäßig anstrengende Morgende, und diese Woche sagte mir eine Kollegin mit älteren Kindern: Das bleibt so. Es wird anders, aber die sind morgens einfach oft nicht fit.
Was ich finde: Wenn der Sohn es immer kennt, dass Papa ihn bringt, dann finde ich das völlig okay, wenn du gehst. Dann ist Papa ja einfach zuständig und dabei, und er wird nicht alleine gelassen. Bei uns ist manchmal ganz schnell gehen einfach das Beste, was man tun kann. Das war als der Sohn sich noch schlecht von mir lösen konnte, immer das Wichtigste.
Was ich mir in diesen schwierigen Augenblicken als Frage stelle ist: Was ist jetzt das Bedürfnis des Kindes? Weiß ich natürlich auch nicht immer. Und bei uns helfen tatsächlich überraschende Fragen: Es gibt auch Leute, die da von Ablenken sprechen, mir geht es aber eher um ein Herausholen aus des Kindes aus seinem Gedankengefängnis. Mama muss unbedingt bei mir schlafen – T-Shirt anbieten, Papa darf nicht mit Wäsche aufhängen – Papa bietet Lego bauen an, und zack darf Mama einfach alleine Wäsche aufhängen. Allerdings ist das nicht so einfach und bedarf manchmal der Übung und klappt auch hier nicht immer… Ich glaube, Tränen und Stress sind aber einfach ein Teil dieser Phase, und das zu akzeptieren macht es dann irgendwie doch leichter…
„Ablenkungsmanöver“ im Sinne von Fragen, die auf am Tag Erlebtes oder auf Alternativen hinweisen, sind bei uns in 8 von 10 Fällen auch die Lösung. Da merkt an richtig, wie sich der Knoten im Kopf des Kindes plötzlich löst.