Donnerstagnachmittag, gegen 15 Uhr. Wir schreiben die fünfte Woche meiner diesjährigen Sommerpause – und damit auch die fünfte Woche, die ich nahezu rund um die Uhr mit meinem Kind verbringe. „Mama? Kann ich Shaun das Schaf gucken?“ Ich zucke. Wie ich jedes Mal zucke, wenn mich der Lütte fragt, ob er eine DVD einlegen darf. Nicht etwa, weil ich mich um seinen Medienkonsum sorge. Der liegt weit unter den WHO-Empfehlungen. Ich zucke, weil ich spüre, wie gern ich begeistert „Oh ja, sehr gerne!“ antworten möchte. Und mir diese Begeisterung im nächsten Moment erschrocken verbiete. Mich für sie schäme. Doch an diesem Donnerstag begreife ich endlich eins: Diese Begeisterung ist nichts anderes als ein Symptom dafür, dass Selbstbestimmung in meinem Leben kein optionaler, sondern fester Bestandteil ist. Mich dafür zu schämen, ist absurd.
„Du kannst Dein Kind doch nicht vor dem Fernseher parken!“
Kaum ein Thema ist für Eltern ein so emotionales und mit großem Anspruch besetztes wie der Medienkomsum ihrer Kinder. Es scheint, als wäre der Erfolg oder Misserfolg in diesem Bereich stellvertretend für die gesamte Erziehung. Nur der Umgang mit Süßigkeiten scheint eine größere Challenge (unter Müttern) zu sein. Und so war auch ich in den vergangenen Monaten immer sehr streng in Sachen TV. Vor allem mit mir selbst!
„Mama? Kann ich Shaun das Schaf gucken?“ Diese Frage eröffnet jedes Mal eine paradiesische Vision: die einer zwanzig- bis dreißigminütigen Pause, in der das Kind zufrieden und wortlos auf der Couch sitzt und ich selbst ohne Unterbrechung allein Dinge zu Ende machen kann. Ich wiederhole: Ohne Unterbrechung! Allein! Zu Ende! Da wird selbst bügeln oder das Raussuchen von Steuerunterlagen zur Wellnesseinheit.
Doch genau dieser Gedanke, dass man lieber allein Wäsche aufhängen möchte als mit dem eigenen Kind ein Buch anschauen/ Lego bauen/ basteln/ Kuchen backen / auf den Spielplatz gehen – wir erlauben ihn uns nicht. Er gehört sich einfach nicht für eine gute Mutter. Eine fürsorgliche Mutter parkt ihr Kind nicht vor dem Fernseher, schon gar nicht, wenn man es am jeweiligen Tag schon in der Kita hat fremdbetreuen lassen – flüstert uns eine innere Stimme mahnend zu. Und so verbieten wir eigentlich nicht unserem Kind zwanzig Minuten Shaun das Schaf, sondern uns die Pause, die wir so dringend nötig hätten. Weil wir übersehen, dass es nicht unser Kind ist, von dem wir eine Pause brauchen, sondern die Fremdbestimmung.
Eigene Entscheidungen zu treffen ist uns Frauen wichtig
Selbstbestimmt zu leben war für Frauen eines der zentralen Ziele der letzten Jahrzehnte. Und ist es noch immer. Nehmen wir zum Beispiel die finanzielle Unanhängigkeit. Nicht umsonst wächst die Community von Natascha Wegelin alias Madame Monepenny unaufhörlich, nicht umsonst wird ihr Content begeistert aufgesaugt. Endlich selbst über Geld bescheid wissen, finanziell selbstbestimmt leben – auch das wird uns Frauen nun wichtiger denn je. Wir wollen keine Ehe führen, deren Ende uns zum Sozialfall macht. Wir wollen mit unserer eigenen EC-Karte das kaufen, worauf wir Lust haben. Wir wollen wissen, was ein ETF-Fond ist. Wir wollen das befriedigende Gefühl haben, das sich monatlich einstellt, wenn unser Gehalt auf dem Konto eingeht.
Àpropos Gehalt – zu arbeiten ist für die Frauen in meinem Umfeld heutzutage ein selbstverständlicher Akt der Selbstbestimmung. Mehr noch: Nicht mehr nur das „Ob“ spielt eine Rolle, immer mehr auch das „Wie“. Wir fühlen uns bedrängt und fremdbestimmt, wenn wir keine Flexibilität in den Arbeitszeiten eingeräumt bekommen. Stichwort new work:.Wir stellen die Frage nach Purpose und wollen wertegetrieben Einfluss auf Arbeitsinhalte und -strukturen nehmen. Wir wollen nicht, dass ein Kind unseren beruflichen Werdegang stoppt. Einer Arbeit nachgehen, bei der wir uns verwirklichen können, das ist für viele Frauen Selbstbestimmung schlechthin.
Ein drittes Beispiel? Gerne: die körperliche Selbstbestimmung. Die Forderung danach schlägt – gut so! – gerade in den letzten Jahren gesellschaftlich hohe Wellen. Wir legen Rosen nieder, um auf Gewalt im Kreissaal aufmerksam zu machen. Wir posten mit dem Hashtag #metoo, wie wir im Alltag von Männern aufgrund unseres Geschlechts diskriminiert und belästigt werden. Wir informieren uns über Alternativen zur täglichen Hormondröhnung der Anti-Baby-Pille und stellen den Paragraph 2019a infrage.
Selbstbestimmung überall – bis ein Kind kommt
Unabhängig und selbstbestimmt zu leben – dieses Ziel haben Frauen in zahlreichen Bereichen erreicht. Oder sind auf dem Weg dorthin. Privat, beruflich, überall. Es prägt uns, gehört zu unserem Selbstverständnis. Es ist in unsere mentale DNA übergegangen. Das ist phantastisch – fast immer. Es kann aber zum Fallstrick werden, wenn wir Mutter werden. Und es wird ganz sicher zum Fallstrick, wenn wir im Umgang mit unserem Kind gern bedürfnisorientiert handeln.
Tun wir dies, dann sind wir die meiste Zeit am Tag fremdbestimmt. Ja, ich weiß, „Bedürfnisorientierung“ bedeutet nicht, immer das eigene Bedürfnis dem des Kindes unterzuordnen. Aber selbst wenn man auf die eigenen Bedürfnisse gut achtet und in entscheidenden Situationen Grenzen zieht – das Leben mit Kind ist ein fremdbestimmtes. Per se. Und damit steht es frontal dem gegenüber, wofür Frauen in den vergangenen Jahrzenten gekämpft haben.
Es ist bei näherer Betrachtung doch so simpel wie erleuchtend: Eine Frau aus den 50ern, die noch nicht einmal ohne Einverständnis ihres Mannes arbeiten durfte, war es gewöhnt, fremdbestimmt und abhängig zu leben. Die Umstellung von einem Alltag ohne Kind hin zu einem Alltag mit Kind – sie war auf dieser Ebene einfach nicht so drastisch wie sie es heute im Leben einer Frau sein kann.
Ähm, Sandra, und was hat das jetzt alles mit Shaun das Schaf zu tun?
Dass ich es innerlich am liebsten feiern möchte, wenn mein Sohn mich durchschnittlich alle zwei Tage fragt, ob er Shaun das Schaf oder Leo Lastwagen gucken darf – lange habe ich gedacht, das sei ein Indiz dafür, dass ich keine Lust auf mein Kind habe. Wie falsch ich doch lag. Es ist nicht anderes ein Indiz dafür, dass Selbstbestimmung ein fester Bestandteil meines Lebens geworden ist. Das eine hat mit dem anderen nichts, aber auch gar nichts zu tun. Eltern können unfassbar viel Freude an ihren Kindern haben und dennoch eine kinderlose Runde im Supermarkt oder gar einen Urlaub ohne Nachwuchs genießen.
Weil sie eine Sache allein machen können.
Ohne Unterbrechung.
Zu Ende.
So geht Selbstbestimmung – im Kleinen.
P.s. Wer das Gedankenkarussel, das dieser Artikel eventuell angestoßen hat, in verschiedene Richtungen weiterdrehen möchte, findet hier noch ergänzende Artikel und Infos, die ganz bewusst ein breites Spektrum an Gesichtpunkten abbilden: Heult leise! (ZEIT), Fremdbestimmt auch nach fünf Jahren noch (Pusteblumen für Mama), Initiative: Schau hin – Was Dein Kind mit Medien macht, Mythos Mutterschaft (Deutschlandfunk), Mutter sein ist nicht genug (Glücklichscheitern), WHO-Bericht. Falls Ihr noch Beiträge empfehlen möchtet, verlinkt sie gern in den Kommentaren. Dort freue ich ich natürlich auch über Eure persönliche Meinung zum Thema.
P.P.s. Ich spreche von „wir Frauen“, bin mir aber bewusst darüber, dass dieses verallgemeindernde „Wir“ vorwiegend für Frauen gelten kann, die in einer ähnlichen Lebenssituation stecken wie ich. Ich erhebe nicht den Anspruch, dass die Tendenzen und Entwicklungen, die ich in meinem Bekanntenkreis und in meinem sozialen Umfeld erlebe, allgemeingültig sind.
Oh ja! Ich fühle mich bei deinem „wir Frauen“ durchaus einbezogen. Ich gehöre auch zu denen, die anfangs ein schlechtes Gewissen hatten, wenn das Kind mit Netflix „geparkt“ wird, damit ich in Ruhe das Abendessen kochen kann. Mittlerweile habe ich das abgelegt. Es geht eben auch nicht anders, wenn wir zusammen noch eine gesunde Mahlzeit essen wollen. Mit Kind in der Küche hat sich als zeitliche Katastrophe entpuppt und manchmal auch als gesundheitliches Risiko für das Kind und mich. Ein Buch mag sie alleine nicht anschauen. Da braucht sie jemanden zum Austausch über das was sie sieht. Aber eine Folge „Peppa Wutz“, die kann sie ganz alleine für sich gucken. Und irgendwie scheint sie darauf auch ein bisschen stolz zu sein. Vielleicht brauchen also nicht nur wir Mütter eine selbstbestimmte Pause, sondern das Kind auch?
Ich bin den ganzen Tag beruflich fremdbestimmt, dann noch zu Hause durch Kind und Hund. Und es bin ja nicht nur ich – meinem Mann geht es genauso. Und selbst in dieser Pause, die man sich durch Medienkonsum erkauft, tut man doch selten was für sich, sondern meistens auch etwas für die gesamte Familie, wie z.B. kochen. Mir fehlen aktuell noch wirklich meine Pausen alleine, um die Batterie wieder aufzuladen. Mein Balance-Konzept zwischen den großen Bereichen Beruf, Familie und ich, ist noch nicht ausgereift. Da stehe ich mir mit meinen Ansprüchen auch häufig selbst im Weg. Aber ich arbeite daran.
Dein Artikel spricht mir jedenfalls aus der Seele!