Lauf, Lütter, lauf! Oder auch: Was ich in den vergangenen Tage über meine Rolle als Mutter verstanden habe

Es ist tatsächlich wahr: Jedes Kind kann irgendwann laufen. Glaubt Ihr nicht, weil Euer Einjähriges noch immer keine Anstalten macht, sich in die Vertikale zu begeben? Dann hilft nur eine empirische Studie: Geht auf die Straße und zählt, wie viele Erwachsene Euch entgegenkrabbeln. Kein einziger? Na also. Zweiter Beweis: Auch der Lütte kann jetzt laufen.

Und glaubt mir, der hat uns gewaltig auf die Folter gespannt. Zwar nicht so sehr mit dem Laufen, da liegt es mit dem Start im 14. Monat im Durchschnitt, aber das Krabbeln… ja… das war so eine Sache. Als ich an Weihnachten von befreundeten Neu-Mamas, deren Kinder im gleichen Alter sind wie der Lütte, stolze Videos bekam, die ihre Kleinen beim Umherschieben eines Lauflernwagens zeigten, robbte sich mein Sohnemann noch um den Tannenbaum. Dass die anderen bereits seit Wochen krabbelten, während er mit den Armen den Rest seines Körper gekonnt und eigenwillig hinter sich herzog – an diesen Unterschied hatte ich mich inzwischen gewöhnt. Dass er nun aber gleich doppelt abgehängt wurde und ihm eher eine Karriere im Schützengraben als eine Urkunde bei den Bundesjugendspielen winkte, ja, das erforderte dann doch ein tiefes Durchatmen und eine kurze gedankliche Überprüfung meiner jüngsten Erfahrungen im Supermarkt und in der Fußgängerzone: Da liefen doch tatsächlich alle aufrecht, oder?

Am Ende dauerte es sage und schreibe 14 Monate, bis der Lütte das Krabbeln als Fortbewegung ins Repertoire aufnahm. Zu der Zeit stand er schon am Sofa, hangelte sich bereits am Tisch entlang – und dementsprechend schnell tat er dann auch schon seine ersten freien Schritte. Es war noch im selben Lebensmonat. Das ist nun rund fünf Wochen her. Obwohl es verlockend gewesen wäre, bin ich nicht sofort losgerannt, um Schuhe zu kaufen. Viel zu einleuchtend waren für mich die verschiedenen Empfehlungen, Kleindkinder erst einmal barfuss laufen zu lassen. Zum Glück ließ das Wetter das sehr gut zu (im Winter wäre das schwerer gewesen). Wenn wir dann doch mal draußen auf dem Spielplatz, in der Stadtbibliothek  oder ähnliches unterwegs waren, gab´s einfach Stopper-Socken. Reichte vollkommen.

Nachdem der Lütte bei unserem Besuch in Hamburg an Himmelfahrt jedoch die halbe Hafencity per pedes erkundete und vergangene Woche schnurstracks an meiner Hand von der Stadtbibliothek zum Spielplatz Robinsönchen taperte, war dann doch der Zeitpunkt für die ersten festen Schuhe gekommen. Vor fünf Tagen verließen wir das Schuhwerk Bremen mit einem Paar von Ricosta – und was seitdem passierte, hat mir nochmal  im Schnelldurchlauf und sehr sinnbildlich vor Augen geführt, welche Aufgabe wir Eltern haben – und vor allem, dass wir im Kleinen schon mal lernen können, was uns die nächsten Jahre immer wieder beschäftigen wird: das Loslassen.

5 Schritte beim Laufen lernen, die Eltern immer begleiten werden

In nur wenigen Tagen habe ich beim Lütten alle Schritte begleitet, die das Verhältnis von Eltern zu ihrem Kind ein Leben lang prägen und auch auf die Probe stellen werden. Und ich glaube, man tut gut daran, sich das einmal vor Augen zu führen und zu überlegen, wie man in den kommenden Jahren mit jedem einzelnen umgehen möchte.

Halt geben

Ganz zu Beginn, als sein Beine noch wackelig waren, ging es im konkretesten Sinne darum, dem Lütten Halt zu geben. Eine schöne Aufgabe! Wenn sich eine kleine Kinderhand in die eigene legt und mit dieser Geste um Begleitung bittet, so rührt das das Mutterherz nämlich gewaltig. Gerade meines, habe ich doch keinen besonders kuscheligen Knirps, der ständig meine Nähe sucht. Vor gut einer Woche war das anders: Immer wieder streckte er mir sein Händchen entgegen, damit er beschützt durch mich dem Leben entgegenlaufen kann. Er suchte nach Halt, ich hab ihm Halt gegeben.

Eine Situation, die sich so sicher noch unzählige Male wiederholen wird. Immer dann, wenn sich der Lütte neuen Herausforderungen widmet. Angst hat. Unsicher ist. Dann wird er vielleicht nicht mehr die Hand nach uns ausstrecken, sondern nur noch zu uns herüberschielen. Oder eine zaghafte Nachfrage stellen. Oder einfach nur wissen wollen, wo wir zu einem bestimmten Zeitpunkt sein werden. Es braucht Achtsamkeit, um zu bemerken, wann Halt gebraucht wird. Gerade dann, wenn er immer weniger deutlich gesucht wird. Wartet man als Mutter ab, bis das Zeichen kommt? Bietet man schon frühzeitig Hilfe an? Was ist zu viel, was zu wenig? Der Mutterinstinkt wird es vermutlich beantworten.

Eine Richtung anbieten

Bei den ersten Laufversuchen konzentrierte sich der Lütte weniger darauf, wohin ihn seine Schritte führen, sonder darauf, sich auszubalancieren. Die Füße fest am Boden zu haben. Und sich darüber mächtig zu freuen. Ich war diejenige, die ihn gelenkt hat, ihm eine Richtung gegeben hat. Er ist mitgelaufen, wohlwissend, dass er sich auf mich verlassen kann.

Wir Eltern sind Vorbilder. Wertevermittler. Wir sind es, die eine Richtung vorgeben können, weil die Kleinen uns vertrauen. Wir können enorm viel Einfluss darauf nehmen, wohin sich unser Kind entwickelt. Weniger vermutlich, als wir es glauben, aber doch mehr, als dass wir uns zurücklehnen und den Dingen ihren Lauf einfach nehmen lassen sollten. Allerdings müssen wir eines auch lernen: andere Richtungen zu akzeptieren.

Andere Richtungen akzeptieren

Kaum wurden die Schritte des Lütten sicherer, verlagerte sich sein Fokus auf die Umgebung. Nahezu über Nacht wurde er sich klar darüber, welche neue Freiheit er nun  genießt: Er kann nun hingehen, wohin ER will. „Mama will ins Café gehen zum Bezahlen? Na und, ich will draußen vorm Café bleiben und weiterhin den Hund anschauen.“ Denkt er nun beispielsweise und zieht mit seiner Hand in eine ganz andere Richtung als die, in die ich gehen möchte. Plötzlich wurde mir deutlich: Die Zeiten, in denen wir zwei in Sachen Mobilität eins waren, sind vorbei. Nun beginnt die Zeit des Verhandelns, der Tolerierens und des Akzeptierens.

Akzeptanz, dass Kinder etwas anders tun und denken, als wir es tun oder es uns von ihnen wünschen würde, ist etwas fundamental Wichtiges. Und ich glaube, es ist gar nicht so leicht. Wie kann es leichter werden? Durch Verständnis. Wir müssen verstehen, was im anderen vorgeht. Wir müssen in den nächsten Jahrzehnten im Austausch bleiben, sensibel beobachten und uns Zeit nehmen für all das. So wir wir uns bei einem Einjährigen Zeit nehmen müssen, erst in eine andere Richtung mit ihm zu laufen, bevor wir zu unserem eigentlichen Ziel gelangen. Und uns hineinversetzen müssen in die Faszination für einen Hund, die wir selber gar nicht mehr spüren.

Grenzen ziehen

Straßen. Wasserflächen. Gefährliche Treppen. Bei aller Akzeptanz für seinen Wunsch nach bestimmten Wegen gab es in den vergangenen Tagen bereits zahlreiche Situationen, in denen ich dem Lütten ein klares „Stop, hier nicht weiter“ entgegenwarf. Sehr zu seinem Unmut, denn natürlich versteht er nicht, warum er nicht zur Ente in den Teich laufen darf oder rüber zur Bushaltestelle.

Ich werde die nächsten 17 Jahre noch so einige Male Grenzen ziehen müssen. Beim Feiern von Parties, beim Smartphone-Konsum, beim sozialen Verhalten, beim Malen mit Stiften an der Tapete. Es liegt im Wesen der Sache, dass man sich als Eltern unbeliebt macht. An welchen Stellen und mit welcher dahinterstehen Überzeugung muss jedes Elternpaar selbst für sich entscheiden. Wichtig ist lediglich, dann dazu zu stehen. Und konsequent zu bleiben. Es ist eine sehr gute Übung, dass jetzt schon mal aushalten zu lernen.

Loslassen und vertrauen

Der Lütte möchte nun lieber alleine laufen. Seine Hand in meiner Hand – nein, das ist binnen weniger Tage schon deutlich weniger geworden. Und so läuft er vor mir her, mal schneller, mal langsamer, und ich freue mich für ihn, wie begeistert er über diese Situation ist. Und doch gibt es da dann Stufen oder Untergründe, bei denen ich mir nicht ganz sicher bin, ob er das schon allein hinbekommt. Aber da vertraue ich dann einfach darauf, dass er seine Hand dann doch in meine Richtung hält, wenn er der Meinung ist, es nicht zu schaffen. Und es aushalten, wenn er dann doch auf der Nase liegt und dadurch lernt, wie er es besser machen kann. Nicht einfach, aber es hilft ja nicht.

Denn ab sofort wird das Loslassen ein treuer (trauriger) Begleiter meiner Mutterschaft sein. Mit allem, was der Lütte mit dem Halt seiner Eltern an Fähigkeiten hinzugewinnt, wird er eigenständiger. Und das ist auch gut so. Aber macht auch wehmütig. Denn wenn ich es mir wünschen könnte, würde er auch die nächsten Jahre immerzu mit seiner Hand in meiner durchs Leben marschieren. Aber statt dessen wird er sie in einigen Jahren immer häufiger für einen winkenden Abschied nach oben recken und „Tschüss, Mama, bis später“ rufen.

Und ich werde dieses „später“ wohl kaum erwarten können!

About Sandra

Ich schreibe hier über drei Dinge, die mich jeden Tag aufs Neue beschäftigen: meine Heimatstadt Bremen, meine berufliche Selbständigkeit und mein Alltag als Mutter eines Kleinkindes. Was mir am Herzen liegt: Euch anzustiften! Zu Unternehmungen an der Weser, zu Mut im Berufsleben und zu einem humorvoll-offenen Herzen für Eure Kinder. Allen Herausforderungen zum Trotz. Dass es nicht immer einfach ist, Familie und Job zu vereinbaren, darum geht es hier nämlich auch ab und zu.

13 thoughts on “Lauf, Lütter, lauf! Oder auch: Was ich in den vergangenen Tage über meine Rolle als Mutter verstanden habe

  1. Hallo Sandra,
    ich finde es auch total schön geschrieben und interessanterweise kann ich vieles sehr gut nachvollziehen, obwohl gewisse Dinge bei uns ganz anders waren. Robben, Krabbeln und Laufen ging eher fix. Mit gerade 13 Monaten wurde laufend die Welt erobert, und jetzt laufen wir schon gemeinsam mit so einem Kindereinkaufswagen durch den Alnatura. Das ist dann doppelt aufregend.
    Es ist einfach so schön ein Kind beim Großwerden zu begleiten!
    LG Nanne

  2. Liebe Sandra,

    ich habe deinen Text sehr gern gelesen. Er ist auf mehreren Ebenen sehr klug und dabei auch sehr warmherzig.

    Ich selbst betrachte ihn nicht nur als Mutter, die sich sehr darüber freut, dass ihre Kinder inzwischen immer mehr Wege gehen, ohne eine elterliche Hand halten zu wollen, sondern auch immer noch mit den Augen einer Tochter.

    Vielen Dank dafür und viele Grüße

    Nicole

    1. Liebe Nic,

      stimmt, das ist ein guter Hinweis: Wir alle sind ja auch noch die Kinder unserer Eltern und lernen auch über diese Beziehung dazu, wenn wir selbst Kinder haben.

      Danke für Deine netten Zeilen und liebe Grüße
      Sandra

  3. Sehr schöner Beitrag! Ich kann es soooo nachempfinden, was du fühlst. Da erlebe ich auch gerade 🙂 Lg von mir und Karl (knappe 14 Monate)

  4. Bei unserem Sohn, der das richtige Laufen jetzt seit ungefähr einem Monat beherrscht, war dieser eine Moment so faszinierend, als er wirklich merkte, was diese neue Fähigkeit für ihn bedeutet. Die ersten Schritte waren mehr wie aus Versehen, von ihm ganz unbemerkt. Wenige Tage später aber lief er um des Laufens willen, also ohne Ziel, einfach, weil er es konnte. Im Flur rauf und runter. Wir haben sofort begriffen, dass er jetzt wusste, dass er – alleine und selbstbestimmt – Laufen kann. Es war so schön!

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