Romantische Muttervorstellung versus einskalte Realität – ein Klassiker im Alltag mit Kleinkind. Da hat man für die gemeinsame Zeit etwas geplant, was sofort den Stempel „erlebnispädagogisch“ aufgedrückt bekommen könnte und beginnt die Vorbereitungen dafür mit einem wohligen Lächeln im Gesicht. „Das wird ein unvergessliches Erlebnis für uns zwei“ säuselt eine Stimme im Kopf optimistisch. Ja, unvergesslich ist es oft, wenn man Dinge plant, die etwas vom normalen Spiel- und Aktivitätsalltag abweichen. Besonders unvergesslich sind sie beim ersten Mal. Das erste Mal malen mit Fingerfarben, das erste Mal ins Freibad, der erste Strandtag, das erste Mal Babyhamam… Unvergesslich – weil unglaublich lehrreich. Nichts kommt so, wie Mama es sich ausgedacht hat. So war es auch gestern…
Semkenfahrt Bremen: Ein Winterausflug mit Kleinkind
Morgens, halb zehn in der Böttcherstraße: Auf mir komplett unerklärliche Weise bin ich mal wieder in den zeitfressenden Sozialen Medien gelandet. Bei Facebook, um genau zu sein. Als eines der ersten Bilder leuchtet mir ein klirrend kaltes Foto entgegen, das Jumana im Bremer Blockland aufgenommen hat. Unten frostiges Eis, oben strahlend blauer Himmel. Es ist das dritte und nun entscheidende Mal, dass mir ein Posting dieses wunderbare Stück Winter in Bremen zeigt: die Semkenfahrt. Sie ist eine beliebte Schlittschuhstrecke, die nur äußerst selten offiziell freigeben wird. So kommt es mir jedenfalls vor. Was wohl in erster Linie daran liegt, dass ich noch nie auf der Semkenfahrt war. Das bunte Treiben aus Kufen, Eishockeyschlägern und glücklichen Sonnenbrillengesichter habe ich immer nur in der Zeitung verfolgt. Zehn Jahre Hansestadt ohne Eisspaziergang im Blockland. Ts!
Heute ist der Tag gekommen, an dem ich das ändern werde. Fest entschlossen sortiere ich meine Gedanken und versuche zu planen, wie es gelingen kann, am Nachmittag mit dem Lütten warm eingepackt und unkompliziert zur Semkenfahrt zu kommen. Es fährt ein Bus, die Linie 28, erfahre ich. Die Busroute, sie würde uns aber viel viel Zeit kosten und ich sinniere, wie angenehm es wohl ist, am Ende des Ausflugs durchgefroren durch die halbe Stadt zu fahren. Umsteigen inklusive. Ich verwerfe die Bus-Option und rufe beim Cambio Carsharing an. Frage nach dem Kindersitzen, die in den fünftürigen Autos immer im Kofferraum liegen. „Ab ungefähr 3 Jahren und 15 Kilo Körpergewicht“ lautet die für mich unbefriedigende Antwort. Bei beiden Zahlen liegt der Lütte drunter.
Dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen: der Mann hat einen Termin am Nachmittag, der nicht allzu unerreichbar von uns zuhause ist. Ich rufe ihn an. „Können wir uns gegen kurz vor halb vier treffen? Wir kommen mit dem Rad, Du gibst uns dann das Auto und fährst wiederum mit meinem Rad nach Hause?“ Der Mann willigt ein. Ich wiege mich in komfortabler Sicherheit.
Winterausflug mit Kleinkind: Klamottenberge deluxe
So ein Semkenfahrt-Besuch mit Kind bedarf natürlich umfangreicher Vorbereitungen. Vor allem im Kopf. „Was hatte der den heute morgen als Jacke dabei, als er in die Kita ist? Wenn ich ihn nachher mit dem Rad abhole, welchen Overall sollte ich einstecken? Ach herrje, wir brauchen ja den Fahrradhelm – welche Mütze passt darunter? Wo parkt man denn am besten, wenn man nicht weit laufen möchte? Oder muss ich doch den Buggy dabei haben? Nehm ich die Fotokamera mit, ist schließlich so tolles Licht draußen und wer weiß, wann wir da mal wieder sind? Soll ich noch ne Thermoskanne Tee kochen?“ Was ein Glück, dass ich im Herzen eine leidenschaftliche Projektmanagerin bin. Des Skills helfen enorm, wenn man etwas mit Kleinkind unternehmen möchte
Ich mache etwas eher Feierabend als gewohnt, um meine Antworten auf all die Fragen in Ruhe in die Tat umzusetzen. Auf dem Küchentisch wächst ein Berg aus Klamotten, Handschuhen und Mützen. Ich gehe ins Ankleidezimmer und schlachte den Begriff Zwiebellook bis an den Anschlag auf. Wo zum Teufel ist denn die Leggings? Ach sei es drum – muss halt die Yogahose unter der Jeans warmhalten.
Um kurz vor drei schwitze ich in der Garderobe der Kita. Dort herrschen nicht wie draußen -13 Grad und die Winterschuhe vom Lütten wollen einfach nicht über den Fußspann rutschen. Irgendwann ist es geschafft, ich quetsche den Winteroverall, der eigentlich für die Kita bestimmt ist in meinen Rucksack und kriege ihn gerade noch zu. Der Lütte trägt seine Wintermatschhose, weil er damit dann doch noch etwas besser in den Fahrradsitz passt. Dort schnalle ich ihn fest, schwinge mich auf den Sattel – und drücke meinem Sohn den bis auf den Anschlag gefüllten Rucksack ins Gesicht. Sein kleine Kita-Rucksack baumelt währenddessen am Lenker. Ich sehne mich in diesem Moment nach unserem Fahrradanhänger.
Auf dem Weg zum Auto-Übergabepunkt schießt mir eine Erkenntnis durch den Kopf: Oje, der Mann hatte heute morgen weder Schal noch Mütze dabei. Und ich habe ihm jetzt beide nicht eingepackt. Der Arme wird auf dem Heimweg ganz schön schlottern müssen. Zerknirscht sage ich ihn genau das, als wir uns sehen und Autoschlüssel gegen Fahrrad tauschen. „Ach, aber guck mal, da sind ja wenigsten Handschuhe. Bevor ich keine nehme, nehme ich die“, meint der Mann und angelt sich große Baustellenhandschuhe aus dem Kofferraum. „Das wird lustig aussehen, wenn er damit nachher zusammen mit seinem Bürooutfit auf dem Rad sitzt“, schmunzle ich wortlos.
Ich gebe die Adresse des Parkplatzes am Stadtwaldsee ein. Als informierte und des Googeln mächtige Mutter habe ich natürlich recherchiert, wo ich das Auto am besten abstellen kann. Der Eisverein Bremen informiert, dass es direkt am Startpunkt der Semkenfahrt, also rund ums Tierheim keine Parkplätze gäbe, schon gar nicht an besucherreichen Tagen. Man solle also zum Stadtwaldsee ausweichen. Dort angekommen befrage ich das Navi, wie viele Meter es noch bis zur Semkenfahrt sind. Knapp 1,5 Kilometer. Ich beschließe, doch mal zu testen, ob ich nicht noch weiter ranfahren kann. Und tatsächlich: es ist wenig los zwischen Tierheim und Autobahnbrücke. Genau dort stelle ich den Wagen ab. Die restliche Laufstrecke ist kein Problem.
Als ich die Tür zur Rückbank und zum Lütten öffne, bemerke ich Dornensträucher. Mhmm, hier kann ich das Kind also nicht in Ruhe umziehen. Ich schnapp mir Kind und Schneeanzug, öffne den Kofferraum und setze den Lütten hinein. Natürlich schaffe ich es nicht, die Matschhose über die Schuhe zu ziehen. Also Schuhe aus, Matschhose aus, Schneeanzug an, Schuhe an. Das Schuhwerk sträubt sich mal wieder, der Lütte rutscht durch den Druck auf seine Füße immer weiter hinein in den Kombi. Ich schwitze wieder.
Doch das Wunder geschieht: Irgendwann erreichen wir vergnügt den Beginn der Semkenfahrt. Aufatmen. Jetzt wird´s schön. Die romantischen Vorstellungen vom Vormittag erscheinen erneut vor meinem geistigen Auge. Ein Teil davon deckt sich mit der Realität: Es ist einfach wunderschön hier im Blockland. Die tiefstehende Sonne zaubert ein herrliches Licht, die Eisfläche klitzert, ein paar Schlittschuhläufer und Spaziergänger genießen den Winternachmittag. Hach. „Möchtest Du auch mal aufs Eis?“ Der Lütte will. Wir verlassen den kleinen Weg, der gefrorene Wiese und Wümme teilt. „Du musst ganz vorsichtig sein. Das Eis ist glatt.“ Ich nehme ihn an beide Hände und wir setzen die Füße vorsichtig aufs Eis. Der Lütte schaut neugierig nach unten, freut sich, tut einen weiteren Schritt – und legt sich lang. Sein Lächeln verschwindet, er schaut verschreckt. „Das ist nicht schlimm, schau mal, wir versuchen es nochmal ganz langsam.“ Wir laufen etwas weiter. Der Lütte ist skeptisch. „Neiiin.“
Wir gehen zurück auf den Weg. Der Ostwind knallt uns ins Gesicht. „Mama, Arm.“ Ich nehme das Kind auf den Arm. Meine Gedanken:“ Es ist ja auch ganz schön viel auf einmal, denke ich: Die gleißende Helligkeit, der unbekannte Untergrund, die Kälte. Das wird schon noch.“
Nein, es wurde nicht mehr. Nach einem zweiten Versuch fängt der Lütte verzweifelt an zu weinen. Und das ist bei uns wirklich selten. Mein Sohn gehört nicht zu den Kindern, die schnell oder ohne ernsten Grund zu jammern beginnen. Wenn er weint, weiß ich: Das brauche ich nicht weiter zu versuchen. Und so trage ich ihn die Strecke, die wir bereits absolviert haben wieder zurück. Meine Arme sind entsprechend schwer, als wir uns dem Auto nähern. 13 Kilo zu tragen macht mir inzwischen dann doch Mühe.
Zusammengenommen steckten ungefähr zweieinhalb Stunden logistische Vorbereitung in diesem Ausflug, dessen Erlebniszeit gerade mal eine halbe Stunde dauerte. Zum Glück kann ich so etwas inzwischen mit Humor nehmen. Weiß, dass ich beim nächsten Mal schlauer sein werde. Und beispielsweise einen Schlitten mitnehmen werde, auf dem sich der Lütte eingemuckelt übers Eis ziehen lassen kann. Wenn starker Wind angesagt ist, werden wir besser zu Hause bleiben und was die Schuhe anbetrifft, so sollte ich welche mit nach passenderen Sohle dabei haben. Klassische Gummisohle reicht nicht.
Wir kommen eher nach Haus als ursprünglich geplant. Dort treffe ich den Mann wieder, der schlottert wie nichts Gutes. „Ich bin fast gestorben auf den Fahrrad.“ ICh kann es verstehen. Im Radio hieß es nur wenige Momente vorher: „Die Temperaturen sind aktuell kälter als am Nordpol.“
Semkenfahrt mit Kleinkind – hilfreiche Infos
Die Semkenfahrt ist ab heute offiziell geöffnet. Und trotz meiner Premieren-Erfahrung bin ich fest davon überzeugt, dass ein Ausflug dorthin mit Kind eine tolle Sache ist. Meine Tipps an Euch: Wer mit dem Rad oder dem Bus (Linie 28) anreisen kann, sollte das tun. Wer ein Kleinkind dabei hat und nicht am Tierheim parken kann, der weicht tatsächlich am besten an den Stadtwaldsee aus. Für die restliche Strecke hat man dann aber besser einen Buggy oder ein Tragesystem dabei. Toiletten & Co. gibt es vor Ort nicht. Also kurz vorher nochmal den Kleinen die Windeln wechseln. Und wenn Ihr habt, nehmt einen Schlitten mit. Dann könnt Ihr auch mit den Kindern, die auf dem Eis noch nicht sicher laufen können, gut Strecke machen.
Oh je, da hast du aber ordentlich was gewuppt. Da ich dort in der Nähe aufgewachsen bin waren wir als Kinder immer auf der Semkenfahrt. Damals war die nämlich jeden Winter gefroren. Mittlerweile finde ich es nur noch nervig. Zu kalt, zu voll und Schlittschuh laufen mag ich auch nicht. Da muss der Mann dann später mit dem Kind hin.
Ein schöner Artikel!
Ich wollte heute mit meiner Kleinen hin, aber parktechnisch war es irre! So extrem überfüllt, die Leute standen schon richtig auf der Straße! Ich hoffe, irgendwann passt es besser.
Viele Grüße, Becky